Neunter Brief:                                                                           Roetgen, den 8. August 1865

 


Lieber Freund!

 

   Woffelsbach hat, wie ich im vorhergehenden Brief erwähnte, keine Kirche und keine Kapelle, und somit auch keinen eigenen Geistlichen und Gottesdienst. Der Besuch der Pfarrkirche in Ruhrberg ist aber mit großen Beschwernissen verbunden, wie Du in dem, was ich über den Weg zwischen den beiden Orten berichtet habe, leicht schließen kannst. Gerade dadurch ist auch die Pfarrei Ruhrberg für einen Geistlichen so unangenehm als keine andere des Montjoier Landes. Dedenborn in etwa ausgenommen, wo der Pfarrer durch die Verbindung der Dörfer Seifenauel, Rauchenauel und Flastreng ebenfalls mit den Beschwernissen schlechter Wege zu kämpfen hat. Ohne die Verbindung mit Woffelsbach und Weidenau wäre Ruhrberg für einen die Einsamkeit liebenden Pfarrer der angenehmste Aufenthaltsort, den man sich denken kann. Die innere geistige Pflege der dortigen Menschen erfordert bei weitem nicht soviel Aufmerksamkeit und Mühe als in manch anderen Pfarrei in und außer dem Montjoier Lande, denn die Bewohner der Montjoier Gebirge sind in Betreff der religiösen moralischen Leitung ihren Seelsorgern gegenüber sehr folgsam und willig, wie sie denn überhaupt ihre religiösen Pflichten sehr gewissenhaft erfüllen und eine tiefe Frömmigkeit von jeher und überall offen an den Tag zulegen sich nicht scheuen.

   So wirst Du gewiß schon oft die Bemerkung zu machen Gelegenheit gehabt haben, daß sich an allen bekannten Wallfahrtsorten der ganzen Umgegend die „Monscheuer“ in Menge einfinden lassen. Soweit als Wallfahrten überhaupt als ein Beweis des herrschenden Frommsinnes in einer Gegend gelten kann, sind die Bewohner des Montjoier Landes nicht die Letzten in dieser Eigenschaft. Ein fernerer und jedenfalls besserer Beweis von ihrer inneren gesunden Religiosität und ihren Tugendsinn ist der Umstand, daß sie die Mildtätigkeit gegenüber den Armen vor anderen Gegenden auszeichnend üben. Die Armen und Bettler sprechen nirgendwo lieber ein und finden im Allgemeinen nirgends so reichliche und herzliche Gaben, wie in den Häusern der Montjoier Dörfer. Daß sich so viele junge Mannspersonen aus Woffelsbach und Ruhrberg dem geistlichen Stand widmen, ist ebenfalls dem tiefen religiösen Sinn der Einwohner zuzuschreiben. Vorigen Herbst feierte wieder ein junger Priester aus Woffelsbach, namens Hüppgens, in der Pfarrkirche zu Ruhrberg seine erste hl. Messe, an welche Feier sämtliche Einwohner der Pfarrei durch werkthätige Hilfe die innigste Theilnahme bezeugten. Den Namen des jungen Priesters habe ich von Hörensagen und kann deswegen nicht für die Richtigkeit der Schreibart bürgen.

   Also, um wieder auf unseren Gegenstand zurück zu kommen, der Bau einer Kirche in Woffelsbach wäre auf jeden Fall vortheilhaft, besonders weil die Einwohnerzahl schon so beträchtlich ist, 43 Häuser, ungefähr so viel wie in unserm benachbarten Rott, wo schon seit Menschengedenken eine mit einem eigenen Geistlichen bediente Kirche existiert. Aber so lange keine anderen Mittel und Wege ergriffen werden, wie sie bisher ergriffen worden sind, mag wohl ein solcher Bau noch sehr in der Ferne liegen. Seit einigen Jahren besteht hier ein „Kirchenbauverein“, das heißt, aus den Einwohnern sind welche zusammen getreten, die es sich zur Pflicht gemacht haben, durch gewisse bestimmte Beiträge an Geld und auch auf sonstige andere Weise den Bau eines eigenen Gotteshauses herbei zu führen. Allein, nachdem was mir einst ein Einwohner aus Woffelsbach darüber mittheilte, sind wieder andere Gemeinde - Eingesessenen mit diesem Verein und dessen Leistungen unzufrieden, und mag es daher lange währen, ehe die notwendigen Mittel auf diese Weise beisammen sind.

   Den 15. August: Auf dem Wege von Woffelsbach nach Schmidt durchwandert man zuerst auf etwa 500 Schritte die hier sehr anmuthige, fruchtbare reich mit Obstbäumen bepflanzte Thalfläche des Woffelbaches Gemeindegebietes. Dann gelangt man zu einer Getreidemühle, die das nöthige Wasser von einem linker Hand zwischen zwei hohen Bergen herabkommenden Nebenbach der Ruhr erhält. Nachdem man an dieser Mühle vorbei ist und den Bach überschritten hat, fängt das Steigen und Klettern an. Der Weg schwenkt sich, um die Steilheit etwas zu vermindern, im großen linken Bogen an demselben hinauf. Je höher man kommt desto geringer wir die Steigung. Doch vergeht sie nicht ganz, bis man nahe vor das Dorf Schmidt kommt. Der Weg ist allenthalben mit Waldung  (niedrige Eichenschläge) umgeben, die auch an Dichtigkeit verlieren, je mehr man sich dem Gipfel des Berges nähert. Ungefähr in der Mitte zwischen Woffelsbach und Schmidt steht nicht weit vom Wege ein einzelnes Haus, welches mit einigen Äckern umgeben ist. Nähere über dieses einsame Etablissement weiß ich nicht anzugeben nicht einmal seinem Namen. (Nachtrag: Derselbe ist Klaus, und es sind jetzt zwei Häuser dort, sie gehören zur Bürgermeisterei Ruhrberg.) In der Nähe der Stelle findet man auch einen Wegweiser, der den Weg nach Schmidt, Woffelsbach und Hechelscheid zeigt. In Hechelscheid (oder Heichelscheid) befindet sich weder Kirche noch Seelsorger, wohin es aber in staatlicher und kirchlicher Hinsicht gehört, weiß ich nicht, indem ich noch nie dagewesen bin. (Nachtrag: Hechelscheid gehört zu Steckenborn, in Gemeinde und Kirche) Nach der Angabe des erwähnten Wegweisers liegt dasselbe zwischen Schmidt und Steckenborn. Nahe vor Schmidt tritt man aus dem Wald heraus und in die Ackerfelder ein. Fast gleichzeitig erreicht man auch die von Witzerath und Strauch herüberkommende Chaussee, worauf man in 10 Minuten Zeit in Schmidt ankommt.

   Auf Anrathen des Pfarrers von Steckenborn habe ich vorigen Herbst mal eine Veränderung in meiner Marschroute von Dedenborn bis Schmidt gemacht, so daß ich die betreffenden Orte nicht in der früheren Reihenfolge, sondern in folgender Ordnung berührte: Dedenborn, Ruhrberg, Kesternich, Simmerath, Steckenborn, Schmidt. In Betreff der Anstrengung befand ich mich weit besser dabei, als bei der früheren Tour. Von Steckenborn nach Schmidt benutze ich dabei zum großen Theil die Chaussee zwischen Strauch und Schmidt. Übrigens bietet die Route aber so wenig interessante Neuheiten, daß wir eine nähere Beschreibung derselben füglich übergehen können.

   Den 5. September: Der Pfarr- und Bürgermeistereiort Schmidt ist Dir, lieber Freund, von Deinen Pilgergängen nach Heimbach her aus eigener Anschauung so viel bekannt, daß ich wenig mehr darüber mitzutheilen weiß. Wie man nach Osten zu, nicht in großer Entfernung, die grauen Überreste der alten, ehedem so gefürchteten Burg Nideggen gewahrt, so bemerkt man auch an vielen Häusern des Dorfes die Annäherung an die Nidegger Gegend, indem der rothbraune Sandstein der letzteren vielfach zu Thür- und Fensterfassungen angewendet ist. Du wirst bei Deiner Durchreise durch das Dorf gewiß bemerkt haben, daß die Kirche sehr klein und auch baufällig ist. Man hat daher schon seit mehreren Jahren den Bau einer neuen vorbereitet und eine Menge Steine sind schon dafür an Ort und Stelle geschafft. Im nächsten Frühjahr soll auch der Bau in Angriff genommen werden. Schmidt ist von allen Ortschaften des Montjoier Landes am besten in der Kunst des Gesanges ausgebildet; diesen Vorzug hat es den jetzigen Pfarrer zu danken, der schon eine Reihe von Jahren hierselbst fungiert und als seltener Freund und Kenner der Musik den Kirchengesang immer mit unermüdlichen Fleiß gehegt hat. Schmidt liegt sehr hoch auf einem kalten und rauhen Gebirgsplateau und man kann von hier schon sehr deutlich das Siebengebirge am Rhein erkennen.

   Den 6. September: Der etwa eine Stunde lange Weg von Schmidt nach Vossenack wäre sehr angenehm, wenn seine Ebenheit nicht durch das einzige, aber auch sehr tiefe Thal der Call unterbrochen würde. Der bequemste Weg von Schmidt nach Vossenack ist der, welcher etwa hundert Schritt diesseits der Kirche von der Landstraße abgeht, durch Ackerfelder führend mit selbst einer kleinen Biegung das Dörfchen Comerscheid, welches rechter Hand liegt, umgeht und bald darauf das rechte Callufer erreicht. Dieses ist wie auch das linke mit Waldung bedeckt und sehr beschwerlich zu ersteigen. Ganz im Thale der Call findet man ein Haus, welches zu keinem anderen Zwecke, als dem der Landwirthschaft da zu sein scheint. Über den Callbach befindet sich eine dauerhafte Brücke. Die Steigung des linken Ufers dauert fort, wenn auch allmählich sanfter werdend, bis zum Dorfe Vossenack

   Das Kirchdorf Vossenack hat viele und gute Ländereien, von denen man einen großen Theil auf dem eben erwähnten Wege durchwandert. Die Einwohner ernähren sich größtentheils von der Ackerschaft, daneben auch von Waldarbeiten. Die Wenigen, die kein Land besitzen, nehmen ihre Zuflucht zu Fabrikarbeiten in Stolberg und Eschweiler. An Fleiß und Anstrengung in ihrer Wirthschaft gebricht es ihnen gar nicht; die Vossenacker Köhler findet man weit und breit im Walde beschäftigt und daß Frauenzimmer die schwersten Arbeiten verrichten, so gut wie die Mannspersonen Früchte mähen, das Holz und Sträußel mit ihren Ochsen nach Haus fahren usw., ist eine häufige Erscheinung. Ein bedeutender Wohlstand im Allgemeinen ist ihr Lohn dafür. Zum Bebauen der Äcker bedienen sie sich der Ochsen weit mehr als der Pferde. Man sagt, daß die Vossenacker Bauern erst recht in Flor gekommen wären, seitdem sie die Pferde abgeschafft und statt derselben Ochsen zum Ackern gebraucht haben.

   Das Dorf hat nur eine Straße, woran zu beiden Seiten die Häuser angebaut sind. Die ganze Länge, vom ersten Hause bis zu letzten, mag etwa dreiviertel Stunde betragen. In der Mitte des Dorfes, wo auch die Kirche steht, trifft man eine Strecke Häuser, es sind deren mehr als zwanzig, die sich durch Größe und Eleganz vor denen des oberen und unteren Theiles beträchtlich auszeichnen. Hier brannten vor mehreren Jahren, und zwar am Fastnachtsmontag, des Abends 28 Häuser ab. An ihrer Stelle wurden sodann die erwähnten schönen und neuen Häuser errichtet. Die Kirche in Vossenack ist für die jetzige Bevölkerung zu klein. Wie man vernimmt, wird aber schon seit längerer Zeit der Bau einer Neuen vorbereitet. Ein stattliches Pfarrhaus ist schon vor drei oder vier Jahren fertiggeworden. Die Thurmspitze der Kirche ist im Verhältnis der übrigen Bautheile auffallend hoch und schlank; gleich einer Nadel erhebt sie sich aus den übrigen Häusern und Bäumen hervor und macht sich schon von weitem bemerkbar. Da Vossenack in beträchtlicher Höhe auf einer freien waldlosen Ebene gelegen ist, so hat man von hier eine schöne Aussicht  auf die gebirgige Umgebung des Ruhrflußes im Osten, sowie nicht minder auf das mehr nördlich gelegene Dorf Hürtgen im Kreise Düren.

   Den 7. September: Der erste Pfarrort, den ich nächst Vossenack auf meiner Route antreffe, ist Zweifall. Nachdem man Vossenack verlassen hat, überschreitet man nicht weit vom Dorfe ein kleines Nebenflüßchen des Callbaches. Dann führt der nämliche Weg, durch eingefriedigste Äcker sanft aufsteigend, auf den Weiler Germeter zu, welcher eine halbe Stunde von Vossenack entfernt ist. Germeter, Vinweg  und Simonscall sind drei Weiler, die zur Pfarre Vossenack und mit dieser zur Bürgermeisterei Schmidt gehören. Vinweg mit nur ein paar Häusern heißt in der Volkssprache: Wiehweich, was buchstäblich übersetzt Weinweg bedeutet. Simonscall liegt südlich von Vossenack im Thal des Callbaches und hat ausgezeichnet gute Ländereien. Nur sieben oder acht Häuser zählt diese Emigranten - Niederlassung.  Das unterste Haus auf dem Germeter gehört schon zum Kreise Düren. Im übrigen haben diese drei Ortschaften mit ihrer Mutter Vossenack die nämlichen ökonomischen und volksthümlichen Eigenschaften gemein.

   Auf dem Germeter überschreitet man die Düren - Montjoier - Landstraße, nachdem diese nur wenige Schritte nach unten die Grenzlinie zwischen den Kreisen Montjoie und Düren passiert hat. Von hier hat man bis Zweifall noch zwei Stunden und der Weg ist, obgleich weniger gebirgig wie die übrigen, doch der langwierigste auf der ganzen Reise. Als ein sehr holpriger Fahrweg führt er ununterbrochen durch Wald und Gebüsch, ohne daß diese, namentlich zur Herbst- oder Winterzeit, so unangenehme Eintönigkeit auch nur durch ein einziges Haus oder menschliche Wohnung unterbrochen würde. Ein paar Benden sind der einzige Beweis menschlicher Kultur, den man, ungefähr auf halbem Wege, in diesem endlos scheinenden Walde antrifft. Man überschreitet auf dem Wege durch diesen Wald einige Bächlein (Quellflüße der Wehe),  und gelangt endlich ins Thal des Hasselbaches, der nach Zweifall hinführt und sich dort in den Vichtbach ergießt. Der Hasselbach führt seinen Namen nicht mit Unrecht, denn die nächste Umgebung desselben hat fast lauter Haselgebüsch, an dem ich aber (beiläufig gesagt) im vorigen Herbste nur wenige Haselnüsse entdecken konnte. Nahe Zweifall ist das Thal kultiviert und hat sehr fruchtbare Graswiesen. Die steilen Seitenwände aber sind bis zur unmittelbaren Nähe des Dorfes mit Eichen- und Buchenhochwald bedeckt.

   Den 8. September: Zweifall liegt sehr anmuthig im Thale und zu beiden Seiten des Vichtbaches. Letzterer, als ehemaliger Grenzfluß zwischen dem Gebiet Montjoie und der Wehrmeisterei, trennt auch jetzt noch die Kreise Aachen und Montjoie voneinander, und das Dorf Zweifall zerfällt dadurch in zwei Theile, die aber beide eine einzige Bürgermeisterei ausmachen, aber getrennt verwaltet werden. Es besteht hier, wie bei uns in Roetgen, eine evangelische Gemeinde mit einer Kirche und einem Prediger.  Die katholische Kirche und die evangelische liegen nicht weit voneinander. Erstere ist noch neu (vor etwa 16 Jahren erbaut) und nimmt sich inmitten der Häuser recht hübsch aus. Die Häuser sind gedrängt beieinander gebaut, wodurch der Ort mehr einem Flecken als einem Dorfe ähnlich sieht. Die Wohnungen und das Volk in Zweifall verrathen beide, Erstere durch ihre Bauart und Letztere durch ihren Charakter und ihr ganzes Wesen, recht deutlich die immerwährende Vereinigung mit dem Montjoier Lande. Selbst die Sprache ist von der des Münsterlandes, trotz der geringen Entfernung und des häufigen Verkehrs mit demselben, sehr verschieden. Man bezeichnet daher auch in den west- und nördlich gelegenen Ortschaften die Zweifaller als „Monscheuer“  

   Als Hauptnahrungsquelle für die hiesige Einwohnerschaft kann man zwar Ackerbau und Viehwirthschaft gelten lassen; doch finden auch nicht Wenige Arbeit und Verdienst in den Berg- und Hüttenwerken des Münsterlandes und zu Stolberg. Früher ernährten sich viele Leute von der Weberei, die aber jetzt fast gänzlich eingegangen ist, indem sie sich besser  bei den Bergbau- und Schmelzhütten in Arbeit befinden. Nun, lieber Freund, nimm einstweilen noch einmal mit diesen paar Zeilen vorlieb. Ich hoffe, daß sich bald Zeit und Gelegenheit finden wird, die Arbeit fort zu setzen und vielleicht auch im nächsten Brief zu vollenden.

 Bis dahin grüßt, Dein Treuer Freund,                                                                                                          

Hermann Josef Cosler.