Hans Lennartz erzählt uns die Geschichte eines Ausflugs:
Jung und unbekümmert
Ein riskantes Unternehmen
Von Hans Lennartz
Nachdem die alliierten Truppen die Stadt Aachen am 20./21. Oktober 1944 besetzt hatten, fuhr ich als knapp 12jähriger, trotz elterlichen und militärischen Verbotes, am 23. Oktober, morgens gegen 10 Uhr, mit meinem Fahrrad nach Aachen! Der Grund für meine Unternehmung, von deren Gefährlichkeit ich keine Ahnung hatte, war, dass ich aus verschiedenen Gesprächen meiner Eltern entnommen hatte, es seien noch wichtige Geschäftsunterlagen im Aachener Büro meines Vaters verblieben. Die wollte ich retten. Ohne irgendwelche Schwierigkeiten fuhr ich an Gut Kalkhäuschen vorbei und über Schmithof - Lichtenbusch zum Aachener Waldfriedhof und weiter nach Burtscheid - Wilhelmstraße - Kaiserplatz zum Firmensitz in der Stiftstraße 21. In der Stadt sah ich überall zerstörtes und brennendes Kriegsmaterial. Auf dem Kaiser-platz/Ecke Wilhelmstraße lag ein toter deutscher Soldat vor einem zerschossenen Wehrmachtspanzer. Mehrfach musste ich von meinem Rad absteigen, um Schutthalden und noch brennende Häuser zu umgehen. In der Stiftstraße fand ich das Haus, in dem mein Vater sein Geschäft betrieben hatte, relativ unversehrt. Alle Türen standen offen, und ich konnte ungehindert die Büroräume im Erdgeschoss betreten. Im Büro habe ich dann alles zusammengerafft, was dem 12jährigen als Bürounterlagen wichtig und mitnehmenswert erschien. Es war ein unheimliches Gefühl: Keine Menschenseele weit und breit zu sehen, ganz alleine in einem großen Haus in einer menschenleeren Stadt. Unter diesen Umständen ist verständlich, dass ich mich beeilte, diesen unheimlichen Ort schnellstens wieder zu verlassen. Ich bin dann in Richtung Hauptbahnhof gestartet. Ich wollte wissen, ob das Hotel "Frankfurter Hof" in der Bahnhofstraße die letzten Tage heil überstanden hatte. Die Eigentümer, die Familie Piper, waren nämlich unsere Nachbarn in Roetgen und mit meinen Eltern befreundet. Ich konnte feststellen, dass das Haus zwar beschädigt, aber nicht zerstört war. Auch hier standen die Türen offen, aber meine Angst war zu groß, um das Hotel zu betreten. Nun machte ich mich auf den Nachhauseweg und fuhr die gleiche Strecke wieder in Richtung Roetgen zurück. Alles verlief reibungslos, bis ich an "Gut Kalkhäuschen" eintraf. Hier wurde ich von einem amerikanischen Militärpolizisten angehalten. Er inspizierte meine Taschen und Tüten. Der Inhalt schien ihm unverdächtig, und ich konnte meine Fahrt ohne weitere Zwischenfälle fortsetzen. Zu Hause herrschte helle Aufregung wegen meines langen Fortbleibens. Kein Mensch wusste von meiner Radtour, die kein Erwachsener für möglich hielt. Als ich dann stolz meinem Vater seine Geschäftsunterlagen aushändigte, wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, schien es, als ob er zu einer "Strafpredigt" ausholen wollte. Aber meine glückliche Rückkehr war dann doch Anlass genug, es bei einem "strengen Verweis" zu belassen. Die riskante Fahrradtour sprach sich natürlich in der auf Schwerzfeld evakuierten Aachener Kolonie schnell herum, und ich war der "Held des Tages"!