Lilly Klinkenberg berichtet über “Reinartzhof”:
Reinartzhof -
am Fuße des Hohen Venns
Eine Familienchronik von Lilly Klinkenberg (Roetgen, im März 1992)
Die Geschichte des Reinart
Der Reinart, zwischen Eschbach und Steinbach
gelegen, war schon zur keltischen Zeit der
Schnittpunkt wichtiger Straßen. Die von den
Römern ausgebaute Verkehrsstraße war im frühen
Mittelalter der bekannteste Weg über die öde
Fläche des Venns zwischen der Eifel und
Maastricht. Am Oberlauf der Hill, nicht weit von
Baraque Michel, hat man ein Stück der römischen
Straßen freigelegt, die sich hier beinahe 2000
Jahre gegen alle Unbilden erhalten haben.
In einer Aachener Stadtrechnung wird der
Einsiedler auf dem Reinart "Begard" genannt. So
hießen die Klostergemeinschaften, die im 13. und
14. Jahrhundert in Norddeutschland und den
Niederlanden sehr verbreitet waren. Den
weiblichen Zweig nannte man "Beginen". Es soll
ein Aachener Begarde gewesen sein, der die
Klause und das "Hospiz zum Reinart" betreute.
Noch im Jahre 1730 war bei der einheimischen
Bevölkerung die Erinnerung an die Brüder
lebendig. Es heißt in einer Chronik des Klosters
Reichenstein: Früher haben auf dem Reinartzhof im Venn, alte Leute um Gotteswillen gewohnt.
Nachts mussten sie von Stunde zu Stunde die Glocke läuten, welche in einem Baum hing, damit die
Reisenden sich nicht verirrten, wegen Nebel, Schnee und anderen Gefahren.
Vor dem Jahre 1500 sollen die Laienbrüder den Reinart verlassen haben. Der Verkehr, der sich in
Folge des sumpfigen Venns oft schwierig gestaltete, verlagerte sich weiter nach Osten, auf die
sogenannte Kupferstraße. Deshalb ging auch der Pilgerverkehr von Monschau nach Aachen stark
zurück.
Der Dreißigjährige Krieg von 1618-1648 hatte den Reinartzhof total zerstört. In der folgenden Zeit
wurden, gemäß Reichensteiner Lagerbuch, zwei Höfe neu errichtet. Der Bauherr ließ in diesem
Zusammenhang das Glöckchen vom Reinart nach Monschau bringen, in dessen Pfarrkirche es sich
bis zum heutigen Tage befindet. Es ist nicht überliefert, wie viele Pilger und andere Vennreisende
durch das Glöckchen vom Reinart gerettet worden sind.
Danach begann die stille Zeit des Reinartzhofes. Einsam lagen nun die beiden Bauernhöfe in der
weiten Vennlandschaft. Abseits vom Treiben der großen Welt, führten die Bewohner ein friedliches
Leben. Bis zum nächstgelegenen Dorf Roetgen war es eine Stunde Fußweg.
Nach der französischen Revolution, kurz vor 1800, wurden die Höfe von den staatlichen Behörden
verkauft. Der Oberhof kam in den Besitz der Familie Kaufmann-Esser, der Unterhof ging an die
Familie Neiken-Braun. Der Oberhof gehörte zur Gemeinde Mützenich, der Unterhof zur Gemeinde
Konzen.
Im Jahr 1947 wurde berichtet, dass die Wälder im Distrikt Reinartzhof in Feuer und Flamme
standen, und es wurde befürchtet, dass die Einwohner ihre Häuser verlassen müssten.
Glücklicherweise hat man das Übergreifen der Flammen auf die Häuser verhindern können.
Im Jahre 1953 war es nicht das Feuer sondern der Schnee, der die Siedlung im Wald bedrohte. In
der Nacht zum 1. Februar tobte so ein heftiger Schneesturm, wie man ihn seit Menschengedenken
nicht mehr erlebt hatte. In wenigen Stunden waren fast alle Straßen blockiert. Während jedoch die
meisten Dörfer bald wieder Verbindung mit der Außenwelt hatten, war Reinartzhof, das damals 7
Familien zählte, für 5 Tage von der Außenwelt abgeschnitten. Versuche, nach Reinartzhof zu
kommen, scheiterten, denn die Schneedecke war stellenweise mehrere Meter hoch, und
umgefallene Bäume versperrten den Weg. Um den 26 eingeschlossenen Personen, inklusive
mehrerer Kleinkinder, mit Lebensmitteln zu Hilfe zu kommen, traf eines Nachmittags ein
Posthubschrauber der Sabena auf einer Wiese am Lascheter Weg ein, wo er mit Hilfe eines
brennenden Strohhaufens nach kurzem Manövrieren landete. Vier große Pakete mit Broten konnten
in Richtung Reinartzhof vom Hubschrauber weiter transportiert werden. Weniger als 24 Stunden
danach erreichten zwei Schneeflüge den abgeschnittenen Weiler. Die Freude der Menschen war
groß, dass sie endlich aus der ungewissen Lage erlöst waren. Gleich im ersten Hof, welcher der
Familie Braun gehörte, wurden die Retter mit einer Flasche "Klaren" begrüßt, den sie nach Stunden
tüchtigen Schaffens sehr zu schätzen wussten. Alle Bewohner hatten die fünf Tage "Dauerhaft" gut
überstanden.
Der Untergang
Die Belagerung durch die Schneemassen war ein böses Vorzeichen für ein weit größeres Unheil,
das bald hereinbrechen würde.
Durch Königlichen Erlass vom 26. Juni 1958 wurde das "Todesurteil" gefällt mit folgender
Begründung:
Da die Siedlung im Einzugsbereich der Wesertalsperre liegt und die Gefahr der
Wasserverschmutzung besteht, wird sie enteignet und muß geräumt werden innerhalb von 3
Jahren.
Also bis 1961 sollten die Bewohner Ihre Höfe verlassen. Diese Hiobsbotschaft schlug wie ein Blitz
aus heiterem Himmel ein. Dies war doch ihre angestammte Heimat, die sie verlassen mussten,
welche nun dem Untergang geweiht war. Alle Reklamationen blieben erfolglos. Alle Höfe, sogar der
malerische Oberhof, meine Geburtsstätte, wurden in Brand gesteckt. Die 64 Hektar wurden
bepflanzt, zum größten Teil mit Nadelhölzern, die bald alles andere erstickten.
Auf dem Reinart ist es totenstill geworden. Keiner treibt mehr das Vieh auf die fruchtbaren Wiesen.
Unterhalb des untergegangenen Weilers steht ein schlichtes Denkmal, welches im Jahre 1918 von
meiner Großmutter Elisabeth Braun geb. Neiken errichtet wurde. Es trägt die Inschrift:
O Wanderer sei eingedenk
der Abgeschiedenen,
die in dieser Einsamkeit gelebt.
Ehre Ihrem Andenken,
Friede Ihrer Asche.
Süßes Herz Maria sei meine Rettung.
Mein Jesus Barmherzigkeit.
gewidmet von Familie Braun und Neiken
Die Chronik der Familien Braun-Neiken-Klinkenberg
Jedes Mal, wenn wir die alte, nicht mehr vorhandene Heimat besuchen, rasten wir dort und
gedenken in Ehrfurcht all unserer Vorfahren, die dort oben ihr Leben verbrachten.
Mein Großvater, Karl Braun, geboren 1846 in Witzerath, gestorben 15.08.1887 an einer
Lungenentzündung. Er hinterließ meine Großmutter mit fünf Kindern und den Bauernhof. Für
heutige Begriffe ist es sehr schwer, dieses Leben in Gedanken nachzuvollziehen. Die Kinder hießen
Lena, Maria, mein Vater Heinrich, Jean und Barbara.
Diese Menschen arbeiteten in dieser einsamen Enklave, mitten im Wald, am Fuße des
Vennmoores, ohne jegliche Hilfe wie Elektrizität, Wasserleitung oder Landmaschinen. Alles wurde
von Hand mit der vorhandenen Körperkraft getätigt. Die Landwirtschaft basierte nur auf Viehzucht
und Milchwirtschaft. Im Winter musste das Vieh gefüttert und aus einem Brunnen getränkt werden -
morgens und abends. Ebenfalls wurde natürlich von Hand gemolken. Die Milchzentrifuge sowie das
Butterfass wurden ebenfalls von Hand betätigt. Einmal wöchentlich wurden die Produkte Butter und
Eier in Körben zu Fuß nach Eupen transportiert, zirka zwei Stunden Wegstrecke. Für den Heimweg
wurden dann die Körbe mit Lebensmitteln für die Woche neu gefüllt. Mit Wanderliedern haben sie
die Müdigkeit oftmals übertönt.
Am 08. Mai 1882 wurde mein Vater im Unterhof geboren und getauft auf die Namen Johann,
Heinrich, Hubert, Christian. Am 09. September 1914 vermählte er sich mit meiner Mutter Gertrud
Nagelschmitz. Inzwischen hatte er das Gut auf dem Oberhof gekauft, welches von der Straße aus
gesehen ganz außen rechts lag.
Am 18. Januar 1915 wurde ich geboren und am 26. Januar 1917 mein Bruder Jean. Wir
wuchsen dort auf zwischen Verwandten und Freunden. Im nächstgelegenen Hof wohnte ein
Verwandter meines Vaters, Johann Neiken mit Familie. Die Tochter Anna ist mir in guter
Erinnerung; sie hat oft mit uns gespielt. Im Haus gleich an der Straße wohnte die Familie Krott. Sie
hatten neben der Landwirtschaft eine kleine Gaststätte, in der man sich manchmal zum Kartenspiel
und einem gemütlichen Plausch traf.
Meine Eltern erzählten mir später eine Geschichte aus meiner Kindheit:
Eines Abends als ich schon im Bettchen schlief, hatten die Kühe einen Zaun durchbrochen. Nun
mussten die Eltern die entlaufenden Kühe einfangen und den Zaun reparieren. Inzwischen muß ich
wohl aufgewacht sein, nach der Mama gerufen, sie aber nicht gefunden haben. So bin ich nach
draußen gegangen, habe nach Anna gerufen, die mich aber nicht hörte. Dann aber hörte mich
Finchen Krott weinen und holte mich zu sich ins Bett. Der Schreck war groß, als die Eltern das leere
Kinderbettchen fanden. Bei den Nachbarn waren alle im tiefen Schlaf. Die Eltern waren verzweifelt.
Mein Vater spannte das Pferd in den Wagen, um nach Roetgen zu Polizei zu fahren. Durch dieses
Geräusch aufgewacht, kam Frau Krott nach draußen und fragte: "Sucht ihr Euer Kind Lilly? Das
liegt bei meiner Finchen im Bett." Ich kann mir vorstellen, welche Erlösung das für meine Eltern war.
Während des 1. Weltkrieges wurde mein Vater dann eines Tages auch zum Militär einberufen. Nun
stand meine Mutter auch mit Bauernhof, Kindern und Vieh allein. Zeitweise half ihr eine ihrer
Schwestern. Sie machte alles vortrefflich, im Unterhof wohnte meine Großmutter und Onkel Jean
mit Familie; alle standen ihr mit gutem Rat zur Seite. Viele Leute aus Aachen, Roetgen und
Umgebung kamen, um ihre Produkte zu kaufen, zumal sie nebenbei noch einen herrlich riechenden
Käse machte.
Nach Beendigung dieses schrecklichen Krieges hat mein Vater sich entschlossen, den Reinartzhof
an unseren Nachbarn Alois Krott zu verkaufen, um uns Kindern die Strapazen des weiten
Schulweges zu ersparen - besonders im Winter. Dann hat er unseren Hof in Schwerzfeld erworben.
Dorthin siedelten wir über, bevor ich das Schulalter erreicht hatte.
Auf Anregung eines Forstmeisters wurde das Andenken an die ehemalige Siedlung auf dem Reinart
durch eine Kapelle festgehalten, welche die Raerener Pfadfinder in mühevoller Arbeit in die Tat
umsetzten. Am 11. Juni 1973 fand die Einweihung der schönen Waldkapelle statt. Von allen Seiten,
Raeren, Roetgen, Eupen, Konzen und Kelmis strömten die Menschen herbei. Es konnten über 500
Gäste von Herrn Lejoly im Namen der Pfadfinder begrüßt werden. Besonders die Familien, Braun,
Neiken, Krott, Heinen und Gilet. Wohl nie zuvor hat der Reinart so viele Menschen zusammen
gesehen.
"Es ist so im Leben, wenn man etwas verloren hat, weiß man es hinterher erst richtig zu schätzen.
Der Reinart hat es verdient, dass man ihn nicht vergisst, dass sein Andenken der Nachwelt erhalten
bleibt." Dies sagte Herr Pastor von Gielen. Denn hier in der Einsamkeit befand sich im
Hochmittelalter ungefähr zwischen 1100 und 1400 eine der wichtigsten Kulturstätten des Hohen
Venns.
Mit meinen Enkelkindern mache ich jetzt gerne einen Spaziergang nach Reinartzhof und bis ins
Venn. In den Ruinen des Oberhofes sitzen wir am liebsten. Dann muß ich Erinnerungen und
Überlieferungen erzählen - sie können kein Ende finden. Das meist benutzte Wort ist:
WARUM? Alle waren doch so glücklich in der friedlichen Einsamkeit.
Seit 1920 wohnten wir dann eine halbe Stunde von Reinartzhof, in Schwerzfeld, von wo wir nur eine
halbe Stunde Weg zur Schule hatten.
Zunächst will ich etwas über die Familie meiner Mutter, geborene Nagelschmitz, erzählen. Bevor sie
Bäuerin wurde, war ihr Beruf Hutmacherin (Modistin). Mein Großvater, Heinrich Nagelschmitz, war
von Beruf Metzgermeister. Er hatte eine Metzgerei in Büsbach-Stolberg. Sein Hobby war die
Jägerei. Meine Großmutter hatte neun Kindern das Leben geschenkt. Acht davon waren Mädchen,
der Jüngste ein Junge. Einige der Mädels habe ich nicht erlebt, weil sie schon jung starben. Dem
Alter nach hießen sie: Klara, Finchen, Nettchen, Gertrud, Thea und Berta, mein Onkel der Jüngste
hieß Franz. Er hatte später ein Tiefbauunternehmen in Aachen. Bei ihm fand ich Arbeit als
Büroangestellte, nachdem mein Mann sehr früh verstarb.
Wir waren nun vier Kinder, die von Schwerzfeld aus ihren Lebensweg antraten. Die Älteste war ich,
dann mein Bruder Jean. Meine Schwester Helene, die leider schon mit 14 Jahren durch eine
Zahnvereiterung an einer Blutvergiftung starb. Dagegen gab es zu dieser Zeit noch keinerlei
Medikamente. Es war für uns das Schrecklichste, das je passierte in unserer Jugend. 1922 wurde
mein Bruder Karl geboren. Wir besuchten die Volksschule in Roetgen. Allmorgendlich eine halbe
Stunde Schulweg und mittags zurück. Im Winter machte es viel Spaß durch den hohen Schnee zu
stampfen, in Mundart "de Wietzele ze meiße". Nachmittags fuhren wir dann Schlitten, angefangen
auf Breuers Berg bis hinunter über die Weserbachbrücke. Wenn wir hungrig wurden, durften wir bei
meiner Mutter einen leckeren, eingemachten Hering essen; der schmeckte ganz vorzüglich.
Im Sommer hatten wir die Aufgabe, die Kühe auf den großen Weiden in den Segeln zu hüten. In
den benachbarten Weiden waren die Nachbarskinder mit den gleichen Aufgaben betraut.
Langeweile gab es dabei nicht, Verstecken, Nachlaufen etc. waren unsere liebsten Spiele, wenn die
Kühe schön artig ihr Gras kauten und nicht wegliefen.
In der Erntezeit gab es Heuferien. Mein Vater ging, sobald die Sonne sich zeigte, mit der Sense und
mähte das taufrische Gras. Unsere Aufgabe war es, das Gras auseinander zu spreien. Sobald es
dann angetrocknet war, mussten wir es mit einem Rechen wenden. Am Spätnachmittag wurde es
dann auf schmale Bettchen gerecht. Am nächsten Morgen, wenn der Tau getrocknet war, wurde es
wieder auseinandergestreut. War der Wettergott uns gut gesonnen, wurde das fertig getrocknete
Heu eingefahren. Nach und nach gab es dann einige Maschinen, die uns mit dem vorgespannten
Pferd beim Mähen und Wenden die Arbeit sehr erleichterten, wie heute mit den Traktoren.
Unser Lebensweg auf Schwerzfeld
In Roetgen absolvierten wir acht Jahre Volksschule. Ich denke sehr gerne an diese Zeit und an
die Lehrer zurück. Mein Wunsch war, weiter zu studieren, auch meine Lehrerin Frl. Wirtz hat sich
sehr dafür bei meinem Vater eingesetzt, aber ohne Erfolg. Wir waren Bauern, und er brauchte
meine Arbeitskraft auf dem Hof. So erging es auch meinem Bruder Jean. Nur mein jüngster Bruder
Karl wurde zum Bäcker ausgebildet, bei der Schwester meiner Mutter, Tante Klara, die mit dem
Bäckermeister Eugen Fischer eine Bäckerei in Aachen hatte.
Karl war ein sehr lustiger Bursche und blieb es auch sein Leben lang. Er heiratete Marianne Bonfa
und führte mit ihr eine Gaststätte in Aachen am Elsassplatz. 1947 schenkte Marianne der Tochter
Elisabeth das Leben. Sie war ein sehr lustiges und intelligentes Kind. Leider wurde sie durch einen
Unfall, ein Sturz von der Treppe über der Bäckerei, schwer verletzt und musste einige Operationen
über sich ergehen lassen. Aber nichts konnte ihrem Lebensmut etwas anhaben. Auch ihr Ehemann
Siegfried Zeller ist ein toller Kumpel, der ihr in jeder Situation helfend und scherzend zur Seite
stand. Inzwischen hat sie zwei Burschen das Leben geschenkt, die ihr inzwischen hoch über den
Kopf gewachsen sind. Sie heißen Guido und Marco.
Mein Bruder Jean wurde Bauer und übernahm den Hof meiner Eltern. Er heiratete Käthe Esser. Er
arbeitete mit dem Pferd im Wald, wo er gefällte Bäume mit dem Pferd nach Roetgen zum Bahnhof
transportierte. Eines Tages übernahm auch er eine Gastwirtschaft in Roetgen. Drei prächtige Kinder
gingen aus der Ehe hervor, Harry, Franz und Elisabeth. Leider wurde er viel zu früh lungenkrank
und starb nach schwerem Leiden mit 57 Jahren.
Mit 15 Jahren kam ich dann nach Eupen und besuchte die Haushaltsschule auf dem Heidberg.
Meine Freizeit verbrachte ich meistens bei meinen Verwandten, Tante Lena Groteclas in Kettenis
bei Eupen. Dort hatte sie einen großen Bauernhof, den sie allein bewirtschaftete, denn ihr Mann,
Onkel Karl starb auch sehr früh und hinterließ ihr acht Kinder. Sie war eine phantastische Frau, die
ihre Aufgabe toll erfüllte.
Fast alle Verwandten meines Vaters lebten in Eupen und Umgebung. Alle hatten große Bauernhöfe.
Tante Barbara hatte 10 Kinder. Ihr Hof lag in Merolls bei Kettenis. Ihr Mann, Onkel Jakob, starb
auch sehr früh.
Onkel Jean wohnte noch sehr lange in Reinartzhof, bis sein Sohn Josef herangewachsen war und
den Hof übernahm. Er war mit Tante Fina verheiratet, und sie hatten fünf Kinder, die Zwillinge Elli
und Netta, Sohn Josef, Sohn Jean und Tochter Finni. Inzwischen haben alle eigene Familien
gegründet, und Jean und Elli haben schon das Zeitliche gesegnet.
Nach zirka drei Jahren bin ich dann wieder nach Schwerzfeld zurückgekehrt. Die Zeiten hatten sich
geändert, die Nationalsozialisten hatten die Macht übernommen. Ich wurde Mitglied im BDM (Bund
Deutscher Mädchen). Wir machten viel Sport, Wanderungen und Heimabende; Langeweile gab es
nicht. Als Jungbäuerin nahm ich am Reichsberufswettkampf teil. Da wurde ich Kreissiegerin des
Kreises Monschau und nahm dann am Gauwettkampf Köln/Aachen in Köln teil. Nach dreitägigem
Wettkampf in Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Sport usw. wurde ich Gausiegerin. Aufgrund dessen
bekam ich in der Obergauschule des BDM eine Stelle als Wirtschaftsleiterin. Die Schule war sehr
groß und ich war verantwortlich für die tägliche Verpflegung von zirka 100 Leuten, mit Küchenplan,
Einkauf und alles was dazugehört, also vollkommen ausgelastet, aber es machte mir Spaß.
Inzwischen lernte ich meinen späteren Ehemann Josef (Jö) Klinkenberg kennen. Am 20. April 1940
haben wir im Aachener Rathaus geheiratet. Er war geboren am 02. Januar 1907, also acht Jahre
älter als ich. Wir zogen dann in unser Wochenendhaus ein, wo ich auch jetzt noch wohne, nur
zweimal vergrößert. Kurz danach brach der 2. Weltkrieg aus. Jö wurde zum Militär einberufen, wie
alle anderen auch, meine beiden Brüder und sein Bruder Adi und alle weit und breit. Es war
schrecklich. Ich habe dann wieder zu arbeiten angefangen bei der Firma Junker in
Lammersdorf. Als Ersatz für einen Kollegen, der auch zum Militär eingezogen wurde.
Jö wurde nach seiner militärischen Ausbildung nach Russland über Polen beordert. Dort war
dann der schlimme eisige Winter; ich wurde fast verrückt, weil ich ewig daran dachte. Er war einige
Male in Urlaub bei mir; der Abschied war immer unbeschreiblich. Am 16. Mai 1944 wurde mein
Sohn Harry geboren. Ich lebte mit meinen Eltern zusammen auf dem Bauernhof, dort erblickte er
auch das Licht der Welt. Bis dahin war es eine lange Prozedur - ca. 30 Stunden. Meine Mutter und
Tante Finchen haben mich Tag und Nacht betreut. Als er dann da war, war aller Schmerz
vergessen. Ich konnte es nicht begreifen, ein richtiges Menschlein, alles war so perfekt, die kleinen
Händchen, Füßchen, nichts fehlte, ein richtiges Wunder. Dann plötzlich stand meine Freundin in der
Schlafzimmertür mit einem Strauß roter Rosen, von Jö. Er hatte das im letzten Urlaub veranlasst.
Natürlich habe ich mich riesig gefreut, aber jetzt hätte ich ihn sooo gebraucht. Meine liebe Mutter
hat dann Jö sofort einen schriftlichen Bericht nach Russland geschickt. So wuchs der kleine Junge
heran, ohne je den Vater zu sehen, bis er 18 Monate alt war. Er konnte schon laufen und sprechen.
Als Jö dann eines Tages ganz unerwartet nach Hause kam, wollte er das Baby begrüßen. Wir
gingen zu ihm in die Küche, wo er im Opasessel saß. Ich sagte ihm: "Schau', Papa ist gekommen!".
Er strahlte und sagte: "Guten Tag Papa!" Dem armen Papa blieb fast der Atem weg, denn er dachte
noch ein Baby anzutreffen. Alle waren vom Glück überrumpelt.
Der 2. Weltkrieg war zu Ende; wir waren glücklich, wieder als eine Familie zusammen zu sein.
Mittlerweile war auch mein Schwager Adi aus dem Krieg heimgekehrt. Da seine Familie, Hilde und
Sohn Helmut noch in der Evakuierung im Osten waren, lebte auch er bei uns. Wir mieteten uns ein
Haus im ehemaligen Zollblock, und dort wurde auch wieder die Schneiderwerkstatt meines Mannes
und seines Bruders in Betrieb genommen.
Nach und nach kamen dann alle überlebenden Verwandten aus der Evakuierung zurück. Hilde kam
ohne ihren Sohn Helmut, der leider dort gestorben war, ganz schrecklich. Auch meine
Schwiegermutter fand sich eines Tages bei uns ein. Leider währte dieses Glück nicht mehr sehr
lange; da musste sie aus diesem Leben scheiden.
Am 07. März 1947 wurde dann unser 2. Kind, Tochter Traudel, geboren. Ach, was waren wir eine
glückliche Familie. Meine Eltern lebten gegenüber auf dem Bauernhof. Meine beiden Brüder waren
heil aus dem Krieg heimgekehrt. Karl, der Jüngste, ging zurück nach Aachen. Jean blieb auf dem
Bauernhof und arbeitete mit seinem Pferd im Wald beim Holzfahren.
Meine beiden Kinder besuchten die Volksschule in Roetgen, welche auch ich absolviert hatte. Dann
kam großes Unglück über uns. Während wir das Wochenendhaus zu einem richtigen Wohnhaus,
einem Bungalow erweiterten, wurde mein Mann Jö krank. Und als das Haus fast fertig war, starb er
an Nierenversagen im jungen Alter von 53 Jahren. Für mich und die Kinder war es zunächst wie ein
Weltuntergang. Aber jetzt durfte ich nicht schwach werden, denn Harry war 15 und Traudel 13 Jahre
alt. Sie mussten mit mir weiter machen. Harry machte seine Lehre als Chemielaborant und dann
abends Fortbildungsschule bis zur Hochschulreife. Anschließend nach der Lehre machte er seinen
Diplomingenieur. Seine erste Stelle war bei Geigy in Basel. Dort war er auch verheiratet und hatte
mit seiner Frau Heidrun einen Sohn René.
Traudel besuchte die kaufmännische Schule in Aachen. Danach absolvierte sie eine Lehre als
Versicherungskaufmann. Nach Abschluss der Lehre bot sich ihr, über Freunde, eine Stelle in USA
als Kindermädchen (Nurse), um die englische Sprache zu lernen, zunächst für zwei Jahre gedacht.
Aber wie das Leben so spielt, lernte sie dort ihren jetzigen Ehemann, Rudolf Alonzo aus Paris
kennen. Weihnachten 1968 haben sie geheiratet. Jetzt haben sie 3 Kinder, Natali - 20 Jahre,
Russell - 17 Jahre und Nadine - 11 Jahre. Ich bin sehr oft, fast jedes Jahr, bei ihnen zu Besuch. Sie
und ihre Kinder sind mir das Liebste und Nächste auf dieser Welt. Es geht ihnen sehr gut. Sie
haben ein schönes Haus in Manhasset, Long Island, New York.
Inzwischen hat Harry aus zweiter Ehe auch drei Kinder. Ariadne 13 Jahre, Immanuel - 11 Jahre und
Alexander - 9 Jahre. Sie leben bei ihrer Mutter in Aachen; aber am Wochenende und zu vielen
anderen Gelegenheiten, sind sie bei mir und ihrem Vater. Ich liebe die Kinder so sehr!
Harry hat sich weitergebildet zum Heilpraktiker und Psychotherapeuten. Unserem Bungalow haben
wir noch zwei Etagen draufgesetzt. So leben wir hier miteinander, inklusive seiner sehr lieben
Lebensgefährtin Hilde. Harry hat seine Praxis in Aachen, weil man von Amtswegen hier das
Praktizieren verbot, da wir im Außenbezirk wohnen. Hilde ist auch in Aachen berufstätig und macht
noch ein weiterbildendes Studium.
So kann ich mich nicht über Langeweile beklagen, welches Glück!! Natürlich fliege ich mindestens
einmal jährlich nach USA. Wir verstehen uns so wunderbar. Ich habe schon unendlich viel Schönes
kennengelernt. Meistens machen wir gemeinsam Camping - überall von Florida bis Kanada.
5106 Roetgen/Schwerzfeld im März 1992