Richard Reinartz berichtet uns über “Roetgener Backwaren”:
Nicht nur, dass wir früher in den dreißiger Jahre (20. Jhd.) acht Bäckereien in Roetgen
hatten, sondern was wurde damals für die Bevölkerung gebacken? Die Bäcker begannen in
der Regel ab vier Uhr in der Früh ihr
Tagewerk; früher ließ das
Nachtbackverbotsgesetz ein Arbeiten in
Backstube nicht zu (heute wird dieses
Gesetz in den meisten Betrieben
übergangen, zumal die Konkurrenz der
Brotindustrie mit Ihren Dreischicht-
arbeitszeiten und Ausnahmegenehmi-
gungen den handwerklichen Betrieben
das Berufsleben erschwert).
In der Woche gab es hauptsächlich in
den 1950-60 Jahren früh das so genannte
"Brüetche" (Schnittbrötchen), das
Graubrot, was aber tatsächlich einem
reinen, mit Hefe gebackenen Weißbrot
entsprach, das Gemischbrot, ein Roggen
und Weizenbrot mit geringen Anteilen an
Sauerteig. Der Mehlanteil dieser Brote betrug im Verhältnis 60% Weizenmehl Type 1050 und 40%
Roggenmehl Type 150. Nur die Bäckerei Aloys / Kurt Reinartz hatten damals ein spezielles
Gemischbrot, welches hauptsächlich bei der Kundschaft im "Brand" sehr beliebt war. Das
Schwarzbrot, ein reines Roggenschrotbrot, wurde nur über den Sauerteig vergoren und so
bekömmlich verarbeitet. Eine Eigenheit war die Form der 1500gr Eifelbrote. Sie wurden zu
Halbkugeln verarbeitet und die Kunst war, dass diese Brote in der Oberfläche eine glatte Fläche
erhielten, zumal dafür keine Formen benötigt wurden. Das war eine Technik, die auf meiner
Meisterprüfung vor der Handwerkskammer Aachen 1959 seitens der Prüfungskommission reges
Interesse weckte, zumal man diese Brotform für ein Schwarzbrot als nicht machbar annahm. Mein
damaliger Schaumeister, Bäckermeister Peter Drouven, Aachen Adalbertsteinweg, gab dazu die
entsprechende Erklärung. Zum Wochenende wurden noch "söße Brüetche" verlangt, dazu "söße
Weck", "Riesflaam" (Reisfladen) und Aprikosenfladen, Kirsch- und "Biereflaam", Streusel und
"Canielkoch" (Zimtkuchen).
Da die Roetgener Familien in den 1950-60 Jahren aufgrund ihrer Tätigkeiten in den Webereien,
in der Nebenerwerbslandwirtschaft, durch den Schmuggel von Kaffee und Zigaretten viel Geld
verdienten, wurde auch gut gelebt. Dazu gehörte als dörfliches Ereignis z.B. die Kirmes. Zu
Pfingsten und zu St. Hubertus brachten die Kunden ihre Zutaten, Reiseimer, Apfel und
Birnengeschnippeltes. Dazu gab es den Füllkranz, den
Kaffeekuchen, den Zimtkuchen, den Streuselkuchen ohne
Backpulver und diverse andere Gebäcke. Aus den
Apfelschnitten wurden so genannte "Schlüetsche"
(Apfelzuschläge ca. 30 cm Durchmesser, oben und unten
dünner, süßer Hefeteig, gewürzt mit Zimt, Zucker, Korinthen
und Anis) gebacken. Der "Päereflaam" war belegt mit einem
dunkelbraunen Birnenmus. Dieses Mus entstand durch ein
umständliches Verfahren. Hier wurden Münsterbirnen
verwandt, die gewaschen, geteilt und getrocknet bis zu
einer braunen Reife gekocht wurden und durch die flotte
Lotte von ihren Schalen, Kernen und Stielen befreit als
reines Birnenmus verarbeitet wurde. Danach wurde das
Mus mit Zimt, Anis und etwas Zucker versetzt und als Belag
des "Päereflaam" verarbeitet. Interessant ist auch, dass die
Münsterbirnen heutzutage kaum noch vorhanden sind und
im Handel aufgrund einer EU-Verordnung wegen ihrer
kleinen Struktur nicht gelistet werden. Schade, da diese
Birne durch ihren robusten Widerstand zur Eifel gehört. Eine
leckere Mahlzeit mit Birnen war das Essen "gestufte Päere".
Dieses Essen schmeckte am besten mit dieser Birnensorte.
Mancher möge sich an dieses Gericht erinnern.
Zu den Festtagen holten die Kunden gerne Pistoletts
(eine Art Milchbrötchen), und bei Hochzeiten oder
Konfirmation, Kommunion oder anderen bedeutsamen Festen ließ man sich gerne einen
Schinken oder "Hämmchen" in Schwarzbrot backen. Dieses war aber nur in den älteren
Backöfen möglich, die eine höhere Backkammer hatten. Das ist in den heutigen modernen
Backöfen nicht mehr möglich. Die Roetgener bekamen zu
dieser Zeit an Kirmes gerne Besuch aus der Stadt. Daher
wurde entsprechend vorgesorgt. Vor allem musste
genügend Kuchen auf dem Tisch sein. Das wirkte sich
besonders auf den Reisfladen aus. Die Kunden brachten
"ihren Reis". Die Portionen waren 1/2 Pfund Reis und 5
Eier (5-6 Fläden) als kleinste Menge, dann 1 Pfund Reis
10 Eier (11-12 Fläden) und mehr. Dazu kamen Obst und
Streuselkuchen, so dass die fertiggebackene Bestellung
nur mit dem Fahrzeug oder mit "de Mang" abgeholt wurde
("de Mang" war ein breiter, flacher Weidenkorb, der ganz
aus der Mode geraten ist). Durch die Vielfältigkeit der
Reismasse, da jede Kundin ihr eigenes Rezept des
Reiskochens hatte, war es für die Bäcker eine
Herausforderung, daraus akzeptable Reisfläden
herzustellen. In den siebziger Jahre unseres vorigen
Jahrhunderts flachte diese Kuchenflut ab, und man kaufte
sich nach Bedarf seinen Kuchen.
Das Maisbrot
Nach Ende des Krieges hatten wir in Roetgen das "Glück"
von der amerikanischen Armee besetzt zu sein. Da
Roetgen zu jener Zeit keine ausgesprochen
Ackerlandwirtschaft hatte und hauptsächlich Rind- und Kleinvieh als Nebenerwerb besaß, wurde
das Getreide und somit das Mehl knapp. Unser Mühlbetrieb Albert Cremer Bundesstraße wurde
zwar noch betrieben aber die Liefermenge verknappte sich sehr. Da kam die amerikanische
Militärverwaltung auf die Idee, Maismehl zum Backen anzubieten. Das war für die meisten
Bäckereien in Roetgen, Aachen und Umgebung eine Herausforderung, denn das Maisbrot konnte
nicht wie das Weizen- oder Roggenbrot erstellt werden. Dem Maismehl fehlt die Kleberkonsistenz
(Eiweißgehalt) und daher mischten die Bäcker Weizenmehl dazu. Nach dem Backen musste man
die Maisbrote vorsichtig behandeln, sonst brachen sie in Stücke. Erst nach einem gewissen
Auskühlungs- und Lagerungsprozess konnte das Brot zum Kunden.
Episode
Zur Kirmes brauchten wir aufgrund der Bestellungen viel Personal. Hierbei kam auch meine Tante
Luise aus Aachen und half in dem Laden in der Bäckerei meines Großvaters Peter Reinartz
Hauptstraße 96 aus. Dabei bediente zu jener Zeit meine Tante Luise die Frau des Salamander-
Schuhhändlers Josef Reinartz. Mimi, so war sie allgemein bekannt, holte ihre Bestellung 3
Reisfläden und ihren "Schlüetsch" ab. Tante Luise, die gerade in ihren Augen eine "bessere" Dame
bediente, bemerkte auf Hochdeutsch: "Ach Frau Reinartz, sie möchten sicherlich ihre drei
Reisfläden und ihren Schluchzen abholen?" Danach lachten alle, die im Laden standen, und
Tante Luise zog beleidigt aus dem Laden von dannen.